Studierende

Für alle Studierenden und Schulpflichtigen, auch die Berufsschüler und -schülerinnen, galt seit dem 25. April 1933 das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen".1 Damit sollte u.a. erreicht werden, dass der Anteil „nicht arischer" Schüler und Schülerinnen sowie Studierender eine am jüdischen Bevölkerungsanteil orientierte Quote nicht überstieg. Diese Quotierung wurde auf 1,5 Prozent festgelegt.

Jüdische Auszubildende, die diese Quote überschritten hätten, wären z.B. von den Berufsschulen nicht aufgenommen worden. Da es aber nur selten so viele Lehrlinge jüdischer Konfession in den Klassen gab, spielte die Regelung für den Bereich Berufsausbildung keine relevante Rolle. Auch für die Schulen der Region ist nicht bekannt, dass es zu Entlassungen aufgrund der 1,5 Prozent-Quote gekommen wäre. Dagegen führten Mobbing und Misshandlungen durch Lehrkräfte und Mitschüler dazu, dass viele Eltern ihre Kinder von der Schule nahmen, wie in Beispielen auf der Seite "Politik der Verdrängung" bereits dargestellt wurde. Jüdische Schulen waren nach 1933 in der Region selten, so blieben viele Jugendliche ohne Schulabschluss und Berufausbildung.

Schon 1934 hatten fast alle jüdischen Studierenden die Göttinger Universität verlassen

Die meisten jüdischen Studierenden verließen Göttingen bald nach dem 30. Januar 1933. Für sie war das "Hochschulgesetz" weniger bedeutend, als die Agitation antisemitischer Studenten. Diese hatten schon vor dem Regierungsantritt Hitlers eine Atmosphäre geschaffen, die jüdischen Studierenden ihr Verbleiben an der Universität praktisch unmöglich machte. Ein weiterer Grund für den frühzeitigen "freiwilligen" Abschied von der Göttinger Universität lag darin, dass es keine Perspektive für eine akademische Karriere gab. Es ist dabei im Verlauf der Untersuchung deutlich geworden, dass die Anzahl der geflüchteten jüdischen Kommilitoninnen und Kommilitonen größer war, als bislang bekannt.

Auch ist zu bedenken, dass die meisten jüdischen Abiturientinnen und Abiturienten Göttingens die Absicht hatten, ein Universitätsstudium in ihrer Heimatstadt aufzunehmen. Die "Un"-Rechtslage und die antisemitische Stimmung in der Stadt und an der Georgia-Augusta machten ihre Pläne zunichte. Sie verließen mehrheitlich das Land, bevor sie überhaupt zu studieren begonnen hatten. So war der Sohn des Göttinger Fabrikanten Otto Rosenberg, Albert, 1936 einer der letzten jüdischen Schüler am Staatlichen Gymnasium (heute Max-Planck-Gymnasium), der sein Abitur ablegen konnte. Schon ein Jahr später flüchtete Albert Rosenberg in die USA.2

Auch jüdische Schülerinnen und Schüler verließen Deutschland nach dem Abitur

Der junge Mathematiker Miron Fuchs emigrierte bereits 1933. Er war im Wintersemester 1930/31 von Danzig nach Göttingen gekommen. Seine Lehrer hatten den Hochtalentierten an den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachbereich der Georgia-Augusta vermittelt, der damals Weltruf genoss. Miron Fuchs, als junger Mann bereits Danziger Schachmeister, besuchte Vorlesungen und Seminare bei Landau, Courant und Bernstein. Da er als sogenannter Ost-Jude stigmatisiert war – sein Geburtsort war Kiew – hatte er nach dem 30. Januar 1933 in Deutschland keine Chance auf die prognostizierte große Mathematikerkarriere.3 Schon im November des Jahres flüchtete Miron Fuchs vor den Nachstellungen antisemitischer Kommilitonen zurück nach Danzig. Das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen" und die Stigmatisierung hatten ihm den Verbleib an der Universität unmöglich gemacht.

Kurze Zeit später emigrierte Miron Fuchs über England in die USA. Der Versicherungsmathematiker Henry W. Steinhaus, bis zu seiner Entlassung im April 1933 nach § 3 des „Berufsbeamtengesetzes" Privatassistent bei Prof. Bernstein an der Universität Göttingen, befand sich seit September 1933 in New York. Er stellte für Miron Fuchs das Affidavit und holte ihn in die Vereinigten Staaten, wo er seine Studien abschließen und eine Anstellung bei einer Versicherungsfirma finden konnte. Die in Aussicht gestellte wissenschaftliche Karriere, die in Deutschland nach dem Universitätsabschluss wohl wahrscheinlich gewesen wäre, konnte der Mathematiker in den USA aus finanziellen Gründen nicht verwirklichen.

Entlassene Professoren unterstützten die Studierenden bei der Emigration

Derartige Schicksale sind zahlreich dokumentiert, auch wenn es viele geflüchtete Studierende gab, denen eine wissenschaftliche Karriere in ihrem Aufnahmeland gelang. Häufig waren sie dabei von ihren ehemaligen Lehrern, den im Zuge des "Berufsbeamtengesetzes" entlassenen jüdischen Professorinnen und Professoren, unterstützt worden. Im mathematischen Fachbereich entwickelten sich regelrechte Netzwerke, so dass etliche Nachwuchswissenschaftler, und auch Wissenschaftlerinnen, vorübergehend oder endgültig an den Universitäten Kopenhagen in Dänemark, Cambridge in England oder Princeton in den USA Aufnahme fanden.4 Einige Mediziner nutzten Kontakte nach Istanbul. Neben der Unterstützung durch die ehemaligen Lehrenden gab es auch Hilfe durch Flüchtlingskomitees, die auf die Förderung des bedrängten wissenschaftlichen Nachwuchses ausgerichtet waren. Andere überlebten die deutsche Besatzungszeit in ihren Aufnahmeländern nur mit Hilfe des Widerstands, so die Mathematiker Gerhard Rathenau in Holland und Werner Fenchel in Dänemark. Rathenau konnte durch seine Kontakte untertauchen und sich bis zur Befreiung versteckt halten, Fenchel und seine Ehefrau, die nichtjüdische Mathematiklehrerin Käthe Sperling, wurden vom dänischen Widerstand 1943 nach Schweden gerettet.

Viele der geflüchteten Studierenden hatten im Ausland keine Chance auf eine akademische Karriere

Doch viele der jungen Akademikerinnen und Akademiker hatten keine Chance, ihren Lebenstraum zu erfüllen. Sie mussten sich - und häufig auch ihre Familien - im Aufnahmeland ernähren und dafür jede erdenkliche Arbeit annehmen. Daneben fehlten Zeit, Konzentration und Geld, um die aufgegebenen Studien weiterzuführen oder wieder aufzunehmen. Ein Beispiel dafür ist der Mediziner Hans Kaufmann aus Göttingen. Hans Kaufmann stammte aus einer Arztfamilie, sein Vater war der angesehene praktische Arzt Dr. Julius Kaufmann. Nachdem Hans Kaufmann Ostern 1930 erfolgreich seine Abiturprüfung am Staatlichen Gymnasium in Göttingen abgelegt hatte, schrieb er sich für ein Medizinstudium an der Münchener Universität ein. Nach dem Wechsel an die Universität Göttingen absolvierte er 1933 die ärztliche Vorprüfung. Danach ging er für mehrere Semester nach Italien an die Universität Florenz. Als er im Herbst 1934 zurückkehrte, hatten sich die Verhältnisse gravierend verändert.

Nur unter der Bedingung der anschließenden Emigration konnte das Examen abgelegt werden

Zwar nahm ihn die Fakultät zunächst wieder auf, doch von studentischer Seite wurde intrigiert. Der Vorsitzende der NS-Studentenschaft wandte sich mit der Forderung, den jüdischen Kommilitonen von der Universität zu verweisen, an die zuständigen Gremien. Gleichzeitig machte er Stimmung bei der Kreisleitung gegen Hans Kaufmann. Unter diesen Umständen konnte die Universität dem angehenden Mediziner nur noch eine Frist setzen, in der er sein Examen ablegen konnte. Das gelang Hans Kaufmann, die Parteischergen setzten ihn aber unter Druck, ein Dokument zu unterschreiben, das ihn zur sofortigen Auswanderung nach Examensschluss zwang. Unter dem Druck der Partei besorgte sich der mit KZ-Haft Bedrohte ein Visum für Paraguay.5 Nach mehreren Monaten in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires - Paraguay war nie eine reelle Option - erhielt er durch Beziehungen eine Stellung auf einer brasilianischen Farm im Regenwald. Für weitere medizinische Studien oder die Eröffnung einer eigenen Praxis fehlten später Zeit, Geld und Kraft.


Fußnoten

  1. RGBl.I, 1933, S. 225.
  2. Vgl. Schäfer-Richter / Klein, Gedenkbuch, S. 217.
  3. Erkenntnisse zu Miron Fuchs aus der Entschädigungsakte, HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 129577.
  4. In Kopenhagen lehrte der Mathematiker Harald Bohr, der gute Kontakte zur Georgia-Augusta pflegte, nach Cambridge war der spätere Nobelpreisträger Max Born nach seiner Entlassung geflüchtet und in Princeton war der bedeutende Mathematiker Felix Bernstein aufgenommen worden.
  5. Zu den südamerikanischen Aufnahmeländern und dem Schicksal Hans Kaufmanns siehe auch die entsprechende Unterseite im Kapitel "Emigration" ("Brasilien").

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