Geschäftsleute

Die reichsweit größte Berufsgruppe unter der jüdischen Einwohnerschaft waren 1933 die selbstständigen Geschäftsleute. Auch für das südliche Niedersachsen entsprach die staatliche Berufsstatistik den Gegebenheiten. In kleineren Orten der Region gehörten fast 100 Prozent der jüdischen Familien zur Kaufmannschaft, allenfalls ergänzt durch wenige Angestellte.

In den Städten Hann. Münden, Duderstadt und Dransfeld sowie der Universitätsstadt Göttingen gab es zwar einen höheren Differenzierungsgrad der Berufsgruppen, aber auch hier bildeten Geschäftsinhaber und Kleinunternehmer die größte Einheit vor den akademischen Universitätsbeschäftigten, den Angestellten, den unabhängigen Selbstständigen – Anwälte, Ärzte, Makler etc. – und den Arbeitern.1 Infolge der sozialen Ausgrenzung, ausgelöst durch die Boykottpolitik der NS-Machthaber gegenüber den jüdischen Kaufleuten, vergrößerte sich die Gruppe der abhängig Beschäftigten unter den jüdischen Bürgern und Bürgerinnen im Laufe der 1930er Jahre erheblich.

Jüdische Geschäfte waren größtenteils schon 1937 enteignet

Diese Entwicklung betraf nach dem Ausschluss der Juden und Jüdinnen aus dem Wirtschaftsleben seit Ende 1938 das gesamte Untersuchungsgebiet.2 An der Gruppe der Kaufleute hatten die jüdischen Textil- und Manufakturwarenhändler in der Region den größten Anteil, gefolgt vom Handel mit landwirtschaftlichen Produkten. Auch Viehhändler und Anwälte gab es in fast allen größeren Orten auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Göttingen. Seltener waren Unternehmen mit mehr 30 Beschäftigten, sie standen unter einem besonderen Verfolgungsdruck durch Parteiorganisationen der NSDAP.

In Dransfeld hatte der jüdische Viehhändler Samuel Haas bereits vor der NS-Zeit erhebliche Probleme mit antisemitisch eingestellten Teilen der Landbevölkerung. Ein Problem der im Landhandel Tätigen bestand in der Form des „Warenaustausches". Da hohe Summen für Vieh in Vorleistung gebracht und dafür Kredite aufgenommen werden mussten, war man auf eine gute Zahlungsmoral der Kunden angewiesen. Zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise gaben jüdische Viehhändler aber oftmals selbst Kredit, um ihre Kunden nicht zu verlieren. Diese Forderungen wurden dann nach dem 30. Januar 1933 von den Schuldnern nicht mehr bedient. Diese spekulierten auf die Unterstützung durch die NSDAP und lagen damit meistens richtig. Samuel Haas musste im Winter 1933 auf mehrere tausend Reichsmark verzichten, die ihm zahlungsunwillige Landwirte in Nordhessen seit 1932 schuldeten.

Kunden wurden durch die Kreisleitung unter Druck gesetzt

Eine andere Methode der Marktverdrängung bestand in der direkten Intervention durch die Partei. Erfolgreiche jüdische Geschäftsleute, die über ausreichend Rücklagen verfügten, waren zunächst weniger vom Boykott betroffen. Ab der zweiten Jahreshälfte 1933 ging man daher dazu über, ortsbekannte Kunden jüdischer Kaufleute unter Druck zu setzten. So zog sich der Besitzer des Ritterguts Rosdorf „mit Rücksicht auf seine eigene Sicherheit" Ende 1934 als Großkunde des Göttinger Viehhändlers Eugen Meininger zurück, was dessen geschäftliches Ende zur Folge hatte.3 Die Miteigentümer der Getreidehandlung Gebr. Rosenthal in Göttingen, Leopold Rosenthal und Dr. Walter Pohly, wurden auf Schritt und Tritt von der Gestapo überwacht. Außerdem erpresste die Kreisleitung deren Lieferanten. Dennoch konnte die Firma trotz erheblicher Umsatzeinbußen noch bis 1938 aufrecht erhalten werden. Erst nach dem Pogrom gaben die Eigentümer auf.

Im Textilhandel waren die Geschäftsleute den Boykottmaßnahmen gegenüber machtlos. Uniformierte Parteimitglieder vor den Geschäften, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Boykott aufriefen, wie bei Rosenbaum in Duderstadt oder den Schuhhändlern Gebr. Edinger in Hann. Münden, verringerten die Kundschaft in kürzester Zeit. Während das Textilgeschäft Rosenbaum u.a. wegen seiner treuen Kundschaft aus der Umgebung der Stadt erst 1939 „zwangsarisiert" wurde4, mussten Karl und Kurt Edinger den seit 1933 stattfindenden Repressionen schon bald Tribut zollen. SA-Posten in Zivil standen ab und an vor dem Geschäft, Unbekannte pinselten mit Teer Boykottaufrufe an Schaufenster und Hauswände.

Nach der "Schutzhaft" ins Ausland geflüchtet

Im September 1935 verhaftete die Gestapo Karl Edinger, angeblich wegen Schändung einer „Hitler-Eiche" in den Mündener Wallanlagen, und brachte ihn zur „Schutzhaft" ins Göttinger Gerichtsgefängnis. Hintergrund der Verhaftung war aber wohl die Mitgliedschaft Edingers in SPD und Reichsbanner sowie der Vorsitz des örtlichen CV.5 Nach seiner Entlassung zog der Kaufmann sofort die Konsequenzen, veräußerte Geschäft und Wohnhaus und flüchtete mit seiner Familie nach Brasilien. Dem erfolgreichen Textilhändler Carl Löwenthal erging es geschäftlich ebenso wie Karl Edinger. SA-Leute hatten 1933 ein großes "Jude" auf sein Auslagenfenster in der Langen Straße in Hann. Münden geschmiert, oftmals hielten sie sich auch vor dem Geschäft auf, um mögliche Kunden einzuschüchtern. Obwohl diese "wilden" Aktionen seitens der Berliner Parteiführung untersagt waren, drohte den Boykottierern keine Strafe, sofern sie nicht in Parteinuniform auftauchten. Bis 1935 schaffte es Carl Löwenthal, sein Modewarengeschäft zu halten, dann musste er es auf Anweisung der DAF schließen. Um sich und seine Familie ernähren zu können, beantragte er die Ausstellung eines Wandergewerbescheins. Vielen jüdischen Kaufleuten, die ihre Geschäftsbasis verloren hatten, blieb nichts anderes übrig, als ihre Ware auf den Dörfern von Haus zu Haus anzubieten.

Offenbar waren die Behörden überzeugt, dass die jüdischen Händler angesichts des vorausgesetzten ländlichen Antisemitismus bald aufgeben würden. Gute geschäftliche Kontakte aus "besseren" Zeiten sorgten aber zunächst für ausreichende Einnahmen. So veranlasste die NS-Parteileitung im Sommer 1938 die Abgabepflicht aller Legitimationskarten für den mobilen Handel der jüdischen Geschäftsleute. In Hann. Münden waren davon fünf Familien betroffen. Ihnen wurde damit die letzte Einnahmemöglichkeit entzogen, von nun an hatten sie nur noch die Emigration oder den Verbrauch ihrer Rücklagen als Optionen.

 


Fußnoten

  1. Vgl. hierzu auch die Statistiken bei Bruns-Wüstefeld, Geschäfte, S. 43-45.
  2. Zur Arbeit ehemaliger jüdischer Geschäftsleute in Göttinger Baufirmen seit Ende 1938 vgl. Cordula Tollmien: Zwangsarbeit von Göttinger Juden 1938-1945, in: Göttinger Jahrbuch 2011 (Bd. 59), herausgegeben vom Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung, Göttingen 2011, S. 137 ff.
  3. Zeugenaussage von Dr. Albert Sax im Entschädigungsverfahren vom 19.09.1960, HStAH, Nds. 110 W Acc. 60/94 Nr. 49 Blatt 70-73. Auch Bruns-Wüstefeld, Geschäfte, S. 212-214.
  4. Zur "Arisierung" in Duderstadt vgl. Hans-Georg Schwedhelm et al. (hrsg. von der Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V.): "Bei denen konnte man immer gut einkaufen". Das Ende des jüdischen Lebens in Duderstadt, Göttingen 2006, S. 12 ff.
  5. KrAGö, LA HMÜ 75. CV = Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, trat für die Integration der Jüdinnen und Juden in Deutschland ein und war daher bei Nationalsozialisten verhasst.