Politik der Verdrängung

Mit der Verdrängung aus den sozialen und beruflichen Zusammenhängen setzte sich die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich fort. Gleichzeitig wurde damit der Prozess der Emigration in Gang gesetzt.

Unter dem Begriff der „Verdrängung" der jüdischen Einwohnerschaft können verschiedene Vorgänge subsumiert werden. Die auf der Seite „Aprilboykott" beschriebenen Maßnahmen wirtschaftlicher Art waren vor allem dazu gedacht, die Betroffenen zugunsten "arischer" Konkurrenten vom Markt zu verdrängen. Die Entschlossenheit bei der Durchsetzung der „Arisierungsmaßnahmen" hinterließ großen Eindruck. Aber auch in den Bereichen Bildung, Ausbildung und Kultur schränkten die neuen Machthaber die Perspektiven der Verfolgten derart ein, dass die meisten jüdischen Nachwuchsakademiker und Auszubildenden das Land bereits zwischen 1933 und 1935 verließen. Nach dem im September 1935 erlassenen „Reichsbürgergesetz" verschärfte sich die Situation für sie dann zusehends.

Die Verdrängung aus dem Geschäftsleben stand nur am Anfang

Mit Beginn des Jahres 1937 gab es bereits zahlreiche Gesetze, mit denen die Optionen der Kaufleute weiter eingeschränkt und die in den folgenden Jahren vollzogenen Enteignungen eingeleitet wurden.1 Nach dem Pogrom vom November 1938 exekutierten die Behörden dann alle selbstständigen Tätigkeiten der Juden und Jüdinnen im Deutschen Reich juristisch. Die zunehmende Verarmung verhinderte häufig eine geplante Flucht, die Zurückgebliebenen fanden ihr Ende in den deutschen Vernichtungslagern im besetzten Osteuropa.

In der Langen Straße in Hann. Münden versuchte der Schuhhändler Harry Madelong die "Arisierung" seines Geschäfts, dass er von Vater Georg übernommen hatte, zu verhindern. Da in Folge des Boykotts die Einnahmen erheblich zurückgegangen waren, beantragte er im Dezember 1935 den Ausverkauf seiner Waren. Mit dem Antrag erhoffte sich der Kaufmann durch die verbilligten Angebote im Weihnachtsgeschäft einen besseren Start in das Jahr 1936. Wenige Tage später lehnte die IHK Göttingen seinen Antrag ab.

Letzte Einkunftsmöglichkeiten wurden von offizieller Seite verhindert

Erst zwei Jahre später, im Herbst 1937, erfolgte der Totalausverkauf seiner Waren. Zu diesem Zeitpunkt hatte Georg Madelong den Kampf um sein Geschäft bereits verloren. Ende des Jahres veräußerte er den Betrieb an den Fischhändler Karl Einatz.2 Da seine Ehefrau Hertha noch eine Legitimationskarte für das Wandergewerbe besaß, gab es bis zum Herbst 1938 noch geringe, aber regelmäßige Einkünfte. Im Januar 1939 verkaufte Harry Madelong auch das Wohnhaus in der Langen Straße 53 (heute Nr. 84) an Karl Einatz. Der Fischhändler war kein Mitglied der NSDAP und wollte einen fairen Preis zahlen, da er von den Emigrationsplänen der Madelongs wusste. Der Regierungspräsident in Hannover verhinderte diesen Plan und drückte den Verkaufspreis erheblich. Durch die Zahlung offener Rechnungen an alte Geschäftspartner und den Lebensunterhalt für die Familie verbrauchte sich das Kaufgeld sehr schnell. Auch die Vermögenssperre durch den Oberfinanzpräsidenten (OFP) Hannover behinderte mögliche Emigrationspläne. Die Familie schaffte die Flucht aus Nazi-Deutschland nicht mehr. Am 26. März 1942 deportierte die Gestapo Harry, Hertha und Gerhard Madelong über die Sammelstelle Hannover Ahlem in das Warschauer Ghetto, wo sie im April 1943, zur Zeit des Ghettoaufstands, ermordet wurden.3

Ausgrenzung auch an den Schulen

Für das südliche Niedersachsen liegen weitere Beispiele zum Verdrängungsprozess vor. Während sich in den meisten Städten die Auswirkungen des Boykotts erst nach Monaten, zum Teil auch erst nach Jahren zeigten, zogen in Göttingen und Umgebung viele jüdische Geschäftsleute, aber auch Universitätsbeschäftigte, frühzeitig die Konsequenzen. Der Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage erreichte nicht nur die Händler, sondern ebenso Studierende sowie jüdische Angestellte, Schülerinnen und Schüler.

 

An den Göttinger Schulen machte sich der Stimmungswandel 1933 schnell bemerkbar. Abgesehen von den Gymnasien, an denen offenbar mehr Zurückhaltung an den Tag gelegt wurde, kam es an allen anderen Schulen zu Ausgrenzungen und erheblichen körperlichen Übergriffen gegen die jüdischen Schüler und Schülerinnen. Neben der täglichen Gefahr von Angriffen seitens der örtlichen SA- und SS-Verbände gegen die Wohnungen und Häuser der Verfolgten war die Bedrohung der Kinder im vermeintlichen „Schutzraum" Schule am schwersten zu ertragen. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Verfolgungsaktionen von vorn herein auf die Vertreibung der jüdischen Einwohnerschaft ausgerichtet waren.

Schüler und Schülerinnen wurden systematisch gemobbt

In der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum Erlass des „Reichsbürgergesetzes" im September 1935 verließen daher zahlreiche jüdische Einwohner Göttingen und Umgebung. Jüngere Verfolgte schlossen sich zionistischen Jugendbünden an und bereiteten ihre Auswanderung nach Palästina in Hachschara-Lagern (Umschulungslager) vor. Ein Beispiel dafür liefern die Meyersteins aus Bremke. Mehrere Jugendliche der drei im Ort lebenden Familien Meyerstein meldeten sich im Laufe der 1930er Jahre in einem dieser – meist landwirtschaftlichen – Umschulungsbetriebe an. Margot Meyerstein lernte einen neuen Beruf in der Nähe Hamburgs, Cousin Werner lernte auf einem landwirtschaftlichen Gut in Appenrode, einem Nachbarort Bremkes, und Marianne Meyerstein schulte während ihrer Flucht in einem Ausbildungsbetrieb in Belgien um.

Margot und Marianne Meyerstein emigrierten nach ihrer Ausbildung nach Palästina, Werner Meyerstein zog es zunächst nach England, 1940 ließ er sich mit seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau in der Dominikanischen Republik nieder. Auch die Studierenden wurden systematisch von der Göttinger Universität verdrängt. Häufig ließ man sie noch ihren Abschluss machen, eine Promotion oder gar Hochschulkarriere war ihnen aber verschlossen. Da die meisten jüdischen Professoren und Dozenten infolge des „Berufsbeamtengesetzes" schon im Frühjahr 1933 Universität und Land verlassen hatten, boten sich den verfolgten Studierenden nun Netzwerke im Ausland an, die ihnen bei einer Emigration die weitere Qualifizierung sichern konnten.


Fußnoten

  1. Siehe dazu auch die Seiten unter "Finanzbehörden".
  2. Verfügung des Bürgermeisters als Ortspolizeibehörde vom 29.11.1937, AStM, MR 1513, n.P.
  3. Die Mutter Harry Madelongs, Ida, war im Juli 1942 nach Theresienstadt verschleppt worden. Dort erhielt sie noch zwei Postkarten von ihrem Sohn aus dem Ghetto Warschau. Lili Mendel, geborene Löwenthal, die aus Hann. Münden stammte, hatte Ida Madelong in Theresienstadt berichtet, dass die kasernenähnlichen Gebäude, in denen die aus Südniedersachsen deportierten Menschen in Warschau untergebracht waren, im Zusammenhang mit dem Ghettoaufstand im April 1943 von SS-Truppen mit Artillerie in Brand geschossen worden waren. Dabei kamen alle Bewohnerinnen und Bewohner ums Leben. Zeugenaussage vor dem Amtsgericht Hann. Münden im Rahmen des Todeserklärungsverfahrens vom 25.08.1948, HStAH, Nds. 725 Hann. Münden Acc. 65/79 Nr. 31 Blatt 13.

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