Aprilboykott

Kurz nach der Regierungsübergabe an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 kam es reichsweit zu Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden durch Anhänger und Mitglieder der NSDAP. Im Ausland, vor allem in den USA und Großbritannien, kommentierte die Presse Übergriffe auf Kaufleute, Anwälte, Studierende, Schüler und Schülerinnen äußerst kritisch.

Goebbels und seine Parteigenossen nutzten diese Gelegenheit, um die antisemitische Propaganda neu zu justieren. Sie stellten die Reichsregierung als Opfer einer internationalen „Gräuelpropaganda" dar und konnten damit zugleich den Parteigenossen ihre Entschlossenheit gegenüber dem Ausland demonstrieren.

Um Zeichen nach innen wie nach außen zu setzen, initiierte die Parteiführung einen Boykott gegen jüdische Geschäftsleute, Anwalts- und Arztpraxen im gesamten Deutschen Reich. Neben dem Signal an das Ausland, sich in die antijüdische Innenpolitik des Reiches nicht einzumischen, sollte die Aktion der jüdischen Bevölkerung im Inland deutlich machen, dass sie in Deutschland keine Zukunft mehr habe.

Örtliche Ausschüsse organisierten den Boykott

Planung und Durchführung des Boykotts, der für den 01. April 1933 angesetzt war, sollte in den Händen lokaler Aktionskomitees liegen. In einigen Städten ließen die örtlichen Parteiführer ihre Mitglieder aber bereits vor dem avisierten Termin zu Protestmärschen antreten. Auch in Göttingen kam es am 28. März 1933 zu solch einem Aufzug, der während des Verlaufs und nach Abschluss des Marsches gewalttätige Formen annahm.1 Es wurden Fensterscheiben von Geschäften jüdischer Kaufleute eingeschlagen und einzelne Personen angegriffen und misshandelt.2 Auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Göttingen verliefen die Ereignisse um den Boykott-Tag zwar weniger radikal als in der Universitätsstadt, aber auch dort kam es zu einzelnen Übergriffen. Einige jüdische Kaufleute im Landkreis reagierten umgehend auf die Ereignisse und verließen bald nach dem Blockadetag das Land, so z.B. der Viehhändler Samuel Haas aus Dransfeld.

Samuel Haas und seine Ehefrau wurden in der Nacht auf den 01. April 1933 in ihrem Haus in der Langen Straße in Dransfeld von SA-Männern überfallen. Diese hatten nicht nur die Fensterscheiben eingeworfen und eine Kiste mit Tafelsilber gestohlen, sondern auch das Schlafzimmer des Ehepaares Haas verwüstet. Der Angriff nahm die Ereignisse der Pogromnacht vom 09. November 1938 vorweg. Die Täter kamen überwiegend aus den nahegelegenen Ortschaften, Hann. Münden oder Göttingen, nicht aber aus dem Ort der Tat selbst. Man wollte offenbar die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung senken, wenn die Täter ihre Opfer nicht persönlich kannten. Auch ging es hier nicht nur um einen Warenboykott, die jüdischen Familien wurden in ihren Wohnungen angegriffen. Samuel und Ella Haas flüchteten kurze Zeit später unter Zurücklassung ihrer ganzen Habe über die „grüne" Grenze in die Niederlande.3

Auch in Duderstadt hatten sich im Vorfeld der geplanten Aktion zum 01. April 1933 örtliche Boykottkomitees gegründet, die Lokalpresse unterstützte in ihren Artikeln die Regierungsmaßnahmen. Welche Folgen diese für die jüdische Bevölkerung hatten, zeigen die Aussagen des 1939 nach England geflüchteten jüdischen Kaufmanns Ernst Rosenbaum. Sein Leben in Duderstadt in der Zeit nach dem April 1933 beschreibt er wie folgt:

„Immer wieder wurde ich angepöbelt, nicht mehr gegrüßt von alten Freunden, aus der Gastwirtschaft verwiesen, zweimal in einer Kneipe verhauen, im Eisenbahnzuge bedroht. Von 1937 an wurden immer wieder die Scheiben vom Geschäft eingeschmissen, Plakate vor dem Geschäft hin- und hergetragen: „Wer hier kauft, ist ein Bolschewist". Ein Mann war scheinbar angestellt, vor unserem Geschäft lautest zu schreien, wenn er Kunden hineingehen sah. Wir zitterten schon immer, wenn wir ihn kommen sahen."4

Nach dem 01. April 1933 gingen die Aktionen gegen jüdische Geschäftsleute weiter

Nach dem  Boykott vom 01. April 1933 galt die Aktion „offiziell" als beendet. NS-Wirtschaftsorganisationen, Parteiverbände, auch Konkurrenten der jüdischen Geschäftsleute, hatten aber anscheinend Gefallen an der Maßnahme gefunden. Immer wieder kam es zu „wilden" Aktionen, die nicht von der Partei gedeckt waren. Ob mit oder ohne Genehmigung der Reichsregierung, der Boykott – vor allem die häufige Präsenz Uniformierter vor den Geschäften – beeindruckte nicht nur die jüdischen Inhaber, sondern in gleichem Maße die Kundschaft. Zahlreiche Geschäfte mussten so schon 1933 schließen, auch in Duderstadt. Eine Zeugin beschrieb die Auswirkungen des Boykotts für die Geschäftsinhaber am Beispiel der Familie Rosenbaum:

„Rosenbaums hatten ein sehr gut gehendes Geschäft. Allerdings sind die Umsätze nach 1933 zurückgegangen, da schon damals SA und SS aufpassten, wer in jüdische Geschäfte ging, wodurch viele Leute davonabgehalten wurden, noch zu Rosenbaums zu gehen."5

Viele mussten durch den andauernden Boykott aufgeben

Auch größere, umsatzstärkere Unternehmen litten unter dem Boykott. In Hann. Münden geriet die Schmirgelwarenfabrik der Gebr. Meyer ins Visier eines Konkurrenten, der sich durch die allgemeine Stimmung zu einer Denunziation ermutigt fühlte. Meyers, die eine international tätige Firma leiteten, führten noch 1936 Aufträge für die Reichsbahndirektion Berlin und das Bekleidungsamt der Luftwaffe, ebenfalls in der Reichshauptstadt gelegen, aus. Durch seinen Berliner Vertreter darüber informiert, wandte sich der Eigentümer des Konkurrenzunternehmens an den Landrat des Kreises Hann. Münden:

„Auf meinen Geschäftsreisen habe ich des öfteren wiederholt feststellen können, dass von behördlichen Stellen immer noch Anfragen und Aufträge der Firma „Awuko" Wandmacher & Co. Hann. Münden, deren Inhaber die 3 Volljuden Isaak, Benno und Feodor Meyer sind, übermittelt werden." Und weiter: „Ich erlaube mir die Anfrage, ob es Ihnen vielleicht möglich ist, als Landrat des Kreises Münden diese Behörden auf die o.g. nicht arische Firma aufmerksam zu machen. Mit deutschen Gruß und Heil Hitler Ihr ergebener G.T."6

Wenig später informierte der Landrat die betreffenden Institutionen in Berlin tatsächlich. Der öffentliche Druck war durch die Boykottmaßnahmen so groß geworden, dass sich niemand mehr ihrem Sog entziehen konnte oder wollte.

In Göttingen wurde die Getreidehandlung Rosenthal durch nationalsozialistische Parteigänger schon früh im Jahr 1933 behindert. Die Firma bestand seit 1865, sie war von Mendel Rosenthal in Dransfeld, unweit der Universitätsstadt gelegen, gegründet worden. In der Verfolgungszeit wurde das Unternehmen gemeinsam von Leopold Rosenthal und seinem Schwager, dem Tierarzt Dr. Walter Pohly, geleitet. Ein jährlicher Gewinn von ca. 20.000 RM noch 1933 war offenbar für die NSDAP und die nichtjüdischen Konkurrenten nicht tragbar. Das Beispiel der Getreidehandlung Rosenthal zeigt aber auch, dass der Boykott manchmal ins Leere lief. Bei der ländlichen Kundschaft wurden die Maßnahmen entweder zunächst ignoriert oder sie kamen gar nicht erst an.

NSDAP in Göttingen übte Druck auf nichtjüdische Kunden aus

So ordnete die NSDAP im "Fall" Rosenthal direkte Aktionen an, um ihre Boykottziele zu erreichen. Der Göttinger Rechtsanwalt Leopold Smend vertrat nach dem Zweiten Weltkrieg die überlebenden Familienmitglieder Rosenthal und Pohly in den Entschädigungsverfahren. Er berichtete Anfang der 1950er Jahre, wie man von Parteiseite aus vorging. Landwirte aus der Umgebung Göttingens hatten dem Anwalt erzählt, dass die NS-Bauernschaften vor Ort und die Kreisleitung in Göttingen erheblichen Druck auf sie als Lieferanten des jüdischen Kaufmanns ausgeübt hätten. Man schreckte dabei auch vor Drohungen gegenüber den Zulieferern nicht zurück. Dem Handel der Firma Rosenthal wurde so der Warenzufluss abgedreht. In weniger als zwei Jahren sank daraufhin der Gewinn auf ca. 5.500 RM, 1938 konnten gerade noch die Rechnungen bezahlt werden.7 Häufig ist die Frage gestellt worden, ob allein die Boykottmaßnahmen für die Insolvenzen verantwortlich waren. Die zeitliche Nähe des Ereignisses zur Weltwirtschaftskrise führte nach dem Zweiten Weltkrieg dazu, dass die Wirkung der Blockaden und des Straßenterrors relativiert wurde. Es dürfte unbestritten sein, dass viele kleinere Betriebe unter der Krise stark gelitten hatten. Geschäftsschließungen waren aber bei nichtjüdischen Inhabern, die unter den gleichen ökonomischen Voraussetzungen in die NS-Zeit gestartet waren, signifikant weniger häufig als bei ihren jüdischen Kollegen. 


Fußnoten

  1. Vgl. dazu Peter Wilhelm: Die Synagogengemeinde Göttingen, Rosdorf und Geismar 1850-1942 (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen), Bd. 11, Göttingen: 1978, S. 41-46. Ausführliche Darstellungen der Übergriffe bei Cordula Tollmien: Nationalsozialismus in Göttingen, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3, Göttingen 1999, S. 147 ff. und Alex Bruns-Wüstefeld: „Lohnende Geschäfte". Die „Entjudung der Wirtschaft am Beispiel Göttingens, Hannover 1997, S. 60-68.
  2. Vgl. Polizeibericht vom 29.03.1933, abgedruckt bei Peter Aufgebauer/ Dieter Neitzert: Göttingen im Dritten Reich (Dokumente aus dem Stadtarchiv Göttingen), Heft 1 (Hrsg. Helga-Maria Kühn), Göttingen 1995, S. 36.
  3. Zur Familiengeschichte "Haas" siehe auch unter "Fallbeispiele".
  4. Brief von Ernest Ralston (Ernst Rosenbaum) an Rechtsanwalt Bachmann vom 27.07.1967, NLA-HStAH, Nds. 110 W 14/99 Nr. 116435 Bd. I Blatt 80-87.
  5. Zeugenaussage von Helene Werner vor dem Landgericht Duderstadt vom 26.11.1968, wie Anm. 4, hier: Blatt 180.
  6. Brief des Fabrikanten G.T. an Landrat Wirsel (Münden) vom 06.05.1936, KrAGö, LA HMÜ 0098, n.P.
  7. Angaben zur Firma Gebr. Rosenthal aus der Entschädigungsakte für Dr. Walter Pohly, NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 117134 und der Finanzamtsakte (Göttingen) für Leopold Rosenthal, NLA-HStAH, Nds. 225 Göttingen Acc. 2003/096 Nr. 92.

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